[Rezension] Robert Menasse - Die Hauptstadt

Rückentext:
Fenia Xenopoulou, Beamtin in der Generaldirektion Kultur der Europäischen Kommission, steht vor einer schwierigen Aufgabe. Sie soll das Image der Kommission aufpolieren. Aber wie? Sie beauftragt den Referenten Martin Susman, eine Idee zu entwickeln. Die Idee nimmt Gestalt an – die Gestalt eines Gespensts aus der Geschichte, das für Unruhe in den EU-Institutionen sorgt. David de Vriend dämmert in einem Altenheim gegenüber dem Brüsseler Friedhof seinem Tod entgegen. Als Kind ist er von einem Deportationszug gesprungen, der seine Eltern in den Tod führte. Nun soll er bezeugen, was er im Begriff ist zu vergessen. Auch Kommissar Brunfaut steht vor einer schwierigen Aufgabe. Er muss aus politischen Gründen einen Mordfall auf sich beruhen lassen; ≫zu den Akten legen≪ wäre zu viel gesagt, denn die sind unauffindbar. Und Alois Erhart, Emeritus der Volkswirtschaft, soll in einem Think-Tank der Kommission vor den Denkbeauftragten aller Länder Worte sprechen, die seine letzten sein könnten.

Meine Meinung:
Als ich hörte dass Robert Menasse mit "Die Hauptstadt" den deutschen Buchpreis gewonnen hat, war ich erst etwas skeptisch. Aber natürlich wollte ich das Buch dennoch lesen und ihm eine Chance geben. Und während ich mit dem Werk seiner Halbschwester Eva Menasse, die mit "Tiere für Anfänger" den Österreichischen Buchpreis gewonnen hat, überhaupt nicht klar kam, so war ich überrascht, wie gerne ich "Die Hauptstadt" las.

Zwar hat das Buch zwischenzeitliche Hänger, aber ich war trotzdem immer mit von der Partie und freute mich jedes Mal darauf, weiterzulesen. Der Beginn der Geschichte ist aussergewöhnlich, fast schon lustig, und zieht sich wie ein roter Faden durch die Handlung.

Menasse verbindet in "Die Hauptstadt" die Vergangenheit, die Gegenwart und, wer weiss, vielleicht auch die Zukunft.

Wir treffen auf mehrere unterschiedliche Charaktere aus ganz Europa, die alle lose miteinander verbunden sind; und sei es nur durch das Schwein aus der Eingangsszene. Leider fiel es mir teilweise schwer, die Figuren auseinanderzuhalten, aber nach ein paar Sätzen in den jeweiligen Kapiteln ergab sich das. An manchen Stellen liest sich das Buch wie ein Krimi, dann wieder wie ein historischer Roman, dann wieder wie eine Charakterstudie - je nachdem, welche Figur gerade "an der Reihe" ist.

Menasse beschäftigt sich in seinem Buch auf eine aktuelle Art und Weise mit den Geschehnissen des Zweiten Weltkrieges und dem heutigen Umgang mit der Vergangenheit. Auch hier spannt der Autor wieder Fäden quer durch Europa - dieses Verknüpfen von Schicksalen und deren Zusammenführung an einem wichtigen Punkt der EU war wohl zentrales Kriterium dafür, dass Menasse den Deutschen Buchpreis gewonnen hat.

Mir persönlich gefiel auch der Einblick in die Bürokratie Brüssels als Hauptstadt der EU. Als Schweizer habe ich dazu wahrscheinlich eine andere Verbindung als Bürger von EU-Staaten, aber nichtsdestotrotz ist es enorm faszinierend, zu erfahren, wie dort was entschieden wird. Oder eben nicht entschieden wird. Für mich persönlich war dieses Setting ein erstmaliges Erlebnis und Menasse zeigt, dass es funktionieren kann, einen solchen Riesenbetrieb aus der Innenperspektive zu schildern.

Eine ungewöhnliche Lektüre mit vielen Bezugspunkten, von der wohl am meisten das Schwein vom Anfang in Erinnerung bleiben wird.


Robert Menasse
Die Hauptstadt
Gebunden, 2017
Suhrkamp

978-3-518-42758-3

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